Phantasie und Wirklichkeit
Original-Vortrag Text und Melodie von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 343

1.
Ach, die Phantasie ist immer
schöner als die Wirklichkeit.
Drum ist’s besser: alles denken,
nur nichts seh’n in uns’rer Zeit.
Hörst zum Beispiel du jetzt jede
große, wucht’ge Reichstagsrede
durch die Radiofunken an,
möchtest seh’n den Redner dann:
Denk ihn dir,
denk ihn dir,
mutig wie ein wildes Tier,
wie er grölt im Reichstagssaale,
wie er schwärmt für’s Ideale,
und von heil’gem Zorn entfacht
die Diäten stolz verlacht.
Ach, zu Haus,
da ist’s aus,
er holt die Diäten raus,
gibt sie ihr, hat nichts zu sagen –
will er nur ein Wörtchen wagen,
sagt sie: „Sprich im Parlament!
Hier führ’ ich das Regiment!“
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

2.
Liest ein Mädchen von ’nem Dichter
ein Gedicht voll Liebeslust,
„Wonne“ reimt sich da auf „Sonne“ –
„Herz“ auf „Schmerz“ und „Lust“ auf „Brust“.
„Ach,“ denkt sie, „wer das geschrieben,
wie muß der die Mädchen lieben,
diesen Jüngling säh’ ich gern!“ –
Liebes Mädchen, bleib’ ihm fern!
Denk ihn dir,
denk ihn dir,
jung und schön, der Männer Zier,
aller Mägdelein Frohlocken,
Goetheaugen – Schillerlocken,
wie er stolz und prächtig wohnt,
auf dem Dichtersessel thront. -
Ach wer weiß,
still und leis’
hockt vielleicht ein müder Greis,
fünften Stock, hat sieben Kinder,
ist ein armer Zeilenschinder.
Weil er Zahnweh in der Nacht,
hat er das Gedicht gemacht. –
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

3.
Wenn im Wirtshaus du gesessen,
ißt ’nen Braten zart und fein
und du glaubst nun, wie das Essen
muß die Köchin selber sein,
Grad’ so zart, so appetlitlich –
und die Blut wallt etwas südlich,
möchtest in die Küche geh’n,
um die Holde nah zu seh’n.
Denk sie dir,
denk sie dir,
mollig, drall, zum Küssen schier,
in der Jugend Blüte prangen,
zarte Hände, rote Wangen.
Zum Anbeißen denk sie dir,
aber geh’ nicht rein zu ihr.
Mache kehrt! –
Schlecht genährt
steht ein altes Weib am Herd,
Mager, krumm, mit lahmer Lende
Rote Wang’n? Rote Hände!
Ihr Gesicht ist schwarz vom Rauch
und ’nen Schnupfen hat se auch. –
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

4.
Wenn du einen Film gesehen,
spannend, packend, interessant,
siehst die schöne Diva stehen
oben auf der Leinewand –
und du denkst: „Statt oben stehen
möchte ich mal proben sehen
dich, du große Künstlerin!“
Lass Sie drauf und geh nicht hin!
Denk sie dir,
Denk sie dir,
wie in Ihrem Kunstrevier
Sie Regie führte, streng methodisch
mit 'ner Stimme, höchst melodisch.
Klug und weise denke sie,
doch zur Probe gehen nie, –
jeden Tritt,
jeden Schritt
macht der Regisseur erst mit.
Manche Diva, die ist nämlich
nicht nur schön, sie ist auch dämlich –
und sie lispelt, wenn sie spricht,
bloß im Kino hörst du's nicht –
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

5.
Für ’nen jeden Mann auf Erden
gibt’s ein Weib, für ihn bestimmt,
und es macht ihm viel Beschwerden,
wenn er die verkehrte nimmt.
Doch von den Millionen Frauen
grad’ die rechte zu erschauen,
das ist schwer, unmöglich fast.
Besser, wenn du keine hast.
Denk sie dir,
denk sie dir,
leg’ dich hin und träum’ von ihr,
denn für jeden gibt’s nur eine
und wo findet man grad’ seine?
Mancher sucht ganz Leipzig durch
und sie wart’t in Magdeburg.
’s Ideal seiner Wahl
sucht so mancher voller Qual,
doch fast jeder, den ich hörte,
fand fast immer die Verkehrte,
’s Mädel seiner Phantasie
fand a (er) nie, da fand a (er) SIE –
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

6.
Doch sollt' dich der Zufall affen
und zu spät hast du's erlebst,
wirklich g'rade die Frau zu treffen,
ganz, wie sie dir vorgeschwebt.
Und – dein Schmerz ist nicht zu lindern –
mit 'nem Mann und mit 4 Kindern
steht sie da, und du denkst dir:
„Warum sind die nicht von mir?“
Denk sie dir,
alle vier,
denk dir doch, sie wär'n von dir!
Denk dir hundertausend Küsse
und die anderen Genüsse,
denk, dass du dein Sehnen stillst,
denke alles, was du willst!
Grüße dann
ihren Mann –
schau sie dir noch einmal ein.
Dann begebe dich aufs Wandern
und geh hin zu einer andern –
und dann – voller Phantasie
küsst du die und denkst an sie.
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

7.
Mancher tut den Himmel loben,
geht voll Missmut hier einher.
Wär am liebsten heut schon oben –
so was eilt doch nicht zu sehr.
Wie's dort ist, das weiß man schwerlich,
denn die Auskunft ist sehr spärlich!
's bleibt dir doch noch so viel Zeit
für die ew'ge Seligkeit. –
Denk sie dir,
denk sie dir
und hab hier noch dein Pläsier.
Hast hier noch den Himmel offen
und das Schönste ist das Hoffen.
Weißt ja nicht: Ist jene Welt,
wie du sie hier vorgestellt?
Bist du dort
an dem Ort,
gähnst zu manchmal, möchtest fort.
Möchtest gern mal wieder 'n Stündchen
unten lieben ma unten sünd'gen –
wie du'n wünscht, so denk ihn dir –
aber, bleib noch etwas hier. –
Phantasie ist jederzeit
schöner als die Wirklichkeit.

Die folgende Strophe entstammt dem handschriftlichen Nachlass Otto Reutters. Sie wurde
bisher noch nicht gedruckt. Vielen Dank an Siegfried Naujeck für das Auffinden.

8.
Wenn ein großer Krieg gewesen,
Kann man stets das Beste nur
Von so manchem Feldherrn lesen,
Wie er focht mit viel Bravour. -
In den Schriften, auf den Bildern
Tut man seine Taten schildern. -
Ihn zu seh'n, bist du erpicht -
Besser ist's, du siehst ihn nicht.
Denk ihn dir,
Denk ihn dir -
Schneidig voller Kampfbegier,
Wie er reitet, steht verwegen -
Vorn im dichten Kugelregen, -
Wie fast alles um ihn fällt -
Und nur er sich aufrecht hält.
Ach, am Schluss, -
Fern vom Schuss,
Sitzt der Gen'ralissimus -
Hat 'nen Plan, zeigt seinen Leuten,
Was die Zeichen dort bedeuten -
Und sagt: „Vorwärts, in die Schlacht! -
Ich komm morgen – Gute Nacht!“
Phantasie ist jederzeit
Schöner als die Wirklichkeit.

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