Alles verstehen, heißt alles verzeih'n!
Original-Couplet. Text und Melodie von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 297

1.
Auf manchen Menschen wird heut' geschimpft –
unbedacht wird auf die Nase rümpft.
Eh' ich zum Vorwurf öffne den Mund,
geh' ich der Sache erst auf den Grund.
Mancher zum Beispiel sagt vorwurfsvoll:
„Gott, sind die Leut' heut' vergnügungstoll!
Gehn ins Theater, ins Varieté,
sitzen beim Weine im Séparée.“ – –
Warum denn soll'n wir uns nicht zerstreu'n?
Worüber soll'n wir uns sonst heut' noch freu'n?
Schafft uns doch Freude – das wär gescheit.
Wir brauchen sie in dieser traurigen Zeit.
Da ihr zu schaffen sie nicht versteht,
zerstreu'n wir uns selber, so gut's eben geht.
Ich will das nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

2.
Von manchen Mädchen sagt man voll Hohn:
„Gott, wie verdorben mit achtzehn schon!“
Ja, denkt doch mal nach, wieso das geschah!
Vater im Kriege, die Mutter nicht da.
Sie ohne Aufsicht, ist jung und schön,
hässliche Mädchen wird nie was gescheh'n.
Seh'n sie, dann naht dann so'n junger Fant,
ein Koofmich oder gar'n Leutenant,
holt von Geschäft sie, bringt sie nach Haus,
sie wird nicht gewarnt, sie geht mit ihm aus,
er schenkt ihr 'n Brillanten, den längst sie möcht'!
Ist er auch falsch – ihre Liebe ist echt.
Sie glaubt ihm, die geht mit ihm längere Zeit,
geht immer weiter und geht – zu weit.
Ich will das nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

3.
Trifft sich mal heute ein Menschenpaar,
red'n sie vom Essen, das ist doch klar.
Jeder, der hamstert sich heut' was ein.
Was hintenrum kommt, kommt vorne rein.
Einer schaut neidisch dem andern aufs Brot,
„Der hat's belegt – und wir leiden Not!“
Dabei möcht' jeder sich gern was hol'n,
sei'n wir doch ehrlich – wir haben gestohl'n.
Jeder nahm heute schon indirekt
dem andern weg, was ihm selber geschmeckt –
und die, die's Kartensystem uns erdacht,
haben wohl auch schon mal 'n Fehler gemacht.
Der größte Despot, das ist unser Bauch,
der nimmt's, wo's herkommt – – der meinige auch.
Ich will das nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

4.
Wo man heut' hinschaut, da liest man „Tanz“.
Ja, ist denn die Jugend verdorben ganz?
Mancher schimpft auf die Jugend von heut',
doch ich verteid'ge die jungen Leut'.
War'n vielleicht sechzehn bei Kriegsbeginn,
lebten fünf Jahre in Trauer dahin,
haben von Tanz, von Liebe geträumt –
hab'n die fünf herrlichsten Jahre versäumt,
hör'n die nun heut' 'nen Walzer von Strauß,
zuckt's ihn'n im Bein – sie halten's nicht aus.
Denkt euch doch bitte mal hinein
in so'n Mädchenherz, in so'n Mädchenbein.
Fünf Jahr'nicht getanzt – sie wurden nicht satt.
Was sich da auf gestapelt hat!
All die Walzer von Strauß
sitzen drin und nun müssen sie raus.
Ich will das nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

5.
So manchem Herrscher grollt heut' die Welt.
Grollt auch den Höflingen, die ihn umstellt.
Wenn er sich räuspert, wenn er gespuckt,
hab'n sie voll Ehrfurcht dahin geguckt.
Namen ihn gänzlich in ihre Hut.
Was er auch tut, ist richtig und gut.
Selbst wenn er gut, wenn er gar nichts tut,
heißt's. „Majestät, die haben geruht.“
Gott ist der Höchste – das ist bekannt,
der Allerhöchste wird er genannt.
Was er auch tut, das ist wohl getan,
ja, da kriegt doch so'n Mann den Größenwahn,
und er erklärt den Krieg sodann,
obwohl er ihn gar nicht – „erklären“ kann.
Ich will das nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

6.
Der Steuerbote ist nicht populär –
den Geldbriefträger, den die man mehr.
Ach, auch der glühendste Patriot
flucht, wenn der Steuerbote droht.
Denn von den Steuern sind all beliebt
immer nur die, die der andere gibt.
Doch wenn uns selber der Bude besucht,
der flucht Mann – das nennt man dann Steuer„flucht“.
Auch ich zahl' Steuer und nicht zu knapp,
das ist ganz gerecht – ich geb' gerne was ab.
Trotzdem hab' ich's schlimmer, wie alle im Haus,
denn Sie dürfen fluchen, Sie toben sich aus.
Aber Witze drauf machen, wenn der Staat sagt: „Bezahl!“
Und dann hier abends noch lachen, das machen Sie mal!
Ich will mich nicht etwa entschuld'gen – o nein,
aber alles verstehen, heißt alles verzeih'n.

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