Einmal im Jahr
Original-Couplet. Text und Melodie von Otto Reutter
Teich/Danner Nr. 367
(Der Vortragende tritt als etwas bejahter Mann auf.)
1.
Einmal im Jahr,
wenn alle Glocken zum Jahresschluss läuten,
schweift unser Blick vergangene Zeiten.
Dann müsst' uns alles, was einst wir besessen,
was wir erlebt – und geliebt – und vergessen,
wieder erscheinen, wie früher es war,
einmal im Jahr.
(Will man den Inhalt des Vortrages verallgemeinern, so dass er immer aktuell ist, dann singe man statt Strophe 1 folgendes:)
1a.
Einmal im Jahr
hab’n wir Geburtstag – die Jahre entgleiten.
Ist man erst alt, denkt man früherer Zeiten.
Dann müßt uns alles, was einst wir besessen,
was wir erlebt – und geliebt und vergessen,
wieder erscheinen, wie früher es war,
einmal im Jahr.
2.
Einmal im Jahr
müßt man wie früher von Lebenskraft strotzen,
ohne mit Affen-Verjüngung zu protzen,
Müßt' man so singen die früheren Lieder:
„Schön ist die Jugend, sie kommt immer wieder,“
„Ich bin ein Jüngling mit lockigem Haar,“
einmal im Jahr.
3.
Einmal im Jahr
müsst' man noch glauben an Wunder und Märchen,
wie wir's geglaubt, als wir kam ein paar Jährchen,
als uns der Weihnachtsmann spukte im Schädel,
an den Storch glaubten, besonders die Mädel –
manche glaubt heut' noch an Freund Adebar –
einmal im Jahr.
4.
Einmal im Jahr
müsst' man wie früher die Schule besuchen,
Dummheiten machen, wenn Väter auch fluchen,
Scheiben zertrümmern, die Schilder verrücken,
Rauchen und kneipen, vom Lernen sich drücken –
und dann verprügelt den Lehrer sogar –
einmal im Jahr.
5.
Einmal im Jahr
müsste die Heimat wie früher man sehen,
niedrige Häuser und stille Chausseen,
höchstens 'ne Droschke – es reicht uns nicht nieder,
irgend ein Auto – dann ginge man wieder
über die Straßen ganz ohne Gefahr –
einmal im Jahr.
6.
Einmal im Jahr
müsst' man sich kleiden nach alter Methode,
müsste modern sein die modernde Mode,
müssten die Frauen wie früher sich kleiden,
dass wir sie wieder vom Mann unterscheiden,
dann würde jedem der Unterschied klar
einmal im Jahr.
7.
Einmal im Jahr
müßt' man wieder die Stätten bereisen,
die man einst sah, alle Gegenden preisen.
Gott, war das herrlich, man fuhr durch die Lande,
reiste ins Bad, ging spazieren am Strande.
Manche, die haben gebadet sogar –
einmal im Jahr.
8.
Einmal im Jahr
müßt' unser Weibchen so sein wie vor Jahren,
jung und schön, als wir noch Brautleute waren.
Müßt' uns so küssen wie früher im Leben –
und wieviel Küsse hab’n wir ihr gegeben!
Später, da wird dann die Zuneigung rar –
einmal im Jahr.
9.
Einmal im Jahr
müsst' man, wie einst, in gemütlicher Klause,
jung noch vermehrt, mit ihr sitzen zu Hause.
Müsst' unser Kind auf dem Schoße sie haben,
müsst Strophe zu uns sag'n: „Schau, den bildhübschen Knaben.
Hat von mir gar nichts, gleicht dir ganz und gar –“
einmal im Jahr.
10.
Einmal im Jahr
müsst' man, wie einst, ohne Zwang, ohne Regeln,
Freisein von Frau und von Kind und von Kegel.
Reich müsst' man sein, mit dem Geld müsst' man prahlen,
müsst' jedem Austern und Kaviar zahlen
und selbst die Steuern bezahlen in bar
einmal im Jahr.
11.
Einmal im Jahr
müsst' man noch Kraft hab'n, bis morgens um viere
sich zu berauschen am Wein oder Biere.
„Wer nie 'nen Rausch hatte,“ hab' ich gelesen,
„der ist ein braver Mann niemals gewesen.“
Drum müsst' man mindestens brav sein fürwahr
einmal im Jahr.
12.
Einmal im Jahr
müßt man wie früher viel Essen vertragen.
’s ist so bald aus mit dem schlemmenden Magen,
’s gibt bald Extrakte und ganz kleine Pillen,
die unsern Hunger auf Monate stillen,
Austreten täglich – wie sonst? – J bewahr!
Einmal im Jahr.
13.
Einmal im Jahr
müßt man noch küssen und kosen und lieben,
alles so könn’n, wir man’s früher getrieben.
Schön wär’s, nochmal jede Maid zu betören,
jede zu küssen und jeder zu schwören:
„Dir nur allein bleib ich treu immerdar!“ –
Einmal im Jahr.
14.
Einmal im Jahr
müßten die Mädchen, die süßen, die feinen,
die einst geliebt wir, uns wieder erscheinen.
Zierlich keck müßten vorüber sie wandern,
eicht auf einmal – eine hübsch nach der andern,
daß uns Zeit bleibt für die liebliche Schar
einmal im Jahr.
15.
Einmal im Jahr
müßten uns wieder begrüßen hienieden
all' unsre Lieben, die längst schon geschieden
müßt' uns die Mutter nach allem befragen:
„Junge, mein Junge“, so müßte sie sagen;
macht uns zum Kinde trotz schneeweißem Haar,
einmal im Jahr.
16.
Einmal im Jahr
müßten auch wir hier vereint sein wie heute,
Müßt' ich begrüßen die nämlichen Leute.
Munter wie heut müßten komm’n Sie alljährlich -
Und ich sing' hier, ’s wär doch nicht so gefährlich,
wenn Sie ertragen mein Repertoire
einmal im Jahr.